Das Modell «Gute Versionen und Schlechte Versionen» für jeden Tag
Mir ist es wichtig, dass die Atmosphäre in der Schule gut ist. Das hilft den Kindern konzentriert zu arbeiten. Ich möchte, dass die Kinder ganz wertfrei wahrnehmen können, welche Gefühle und Emotionen ihr Arbeiten begleitet.
Das Modell Gute Version und Schlechte Version ist ein Instrument zur Selbstbeobachtung.
Mir gefällt an diesem Modell besonders, dass es ganz unverblümt beides anspricht, gute Versionen und schlechte Versionen. Das vermittelt ein Gefühl der Sicherheit. Dieses Gefühl vermittle ich den Kindern. Wichtig ist, dass sie sich zuwenden, schauen, wahrnehmen. Sie gewöhnen sich daran, dass man ein Verhalten, wie es auch ist, beobachten kann und dass man es bewerten kann.
Jedes Kind eine eigene 3×3 Mini-Happyend-Maschine. Im Schulzimmer steht auf jedem Schülerpult eine Filzplatte im Format von einem doppelten A 4. Darauf sind bei allen Kindern zwei Bilder zu sehen. Auf der einen Hälfte ist z.B. ein lachender Smiley gezeichnet und auf der anderen ein schlechtgelaunter Smiley. Oder bei einem anderen Kind ist eine farbenfrohe Landschaft zu sehen, mit Regenbogen, mit Sonne, mit einer Stadt voll prächtiger Häuser und auf der anderen Hälfte ist nur eine graue Spinne. Am oberen Rand dieser Filzplatte steckt eine Wäscheklammer. Die ist bei den meisten Kindern im schönen Bild angeklemmt.
Die beiden unterschiedlichen Bilder symbolisieren die «Gute Version» sowie die «Schlechte Version». Jedes Kind kann jederzeit sichtbar machen, in welcher Version es sich befindet, indem es die Wäscheklammer entsprechend platziert. Jedes Kind kann jederzeit seine Gefühle, Stimmungen, sowie sein Verhalten beim schulischen Lernen wahrnehmen.
Ich kann z.B. den Unterricht kurz unterbrechen und die Frage stellen: «In welcher Version bist du gerade jetzt?» Oder ich spreche ein Kind individuell an, wenn mir etwas an seinem Verhalten auffällt. Einmal hatte ein Kind, das noch nicht lange in der Schule 3×3 war, einen Text fehlerfrei geschrieben. Es sass ganz in sich gekehrt an seinem Platz, nachdem ich ihm das Heft zurückgegeben hatte. «Spür mal in welcher Version du gerade jetzt bist.» Ganz behutsam bewegt dieses Kind die Wäscheklammer bis sie am äussersten Rand der guten Version steckt. Ein anderes Kind sitzt an seinem Platz, ein Arbeitsheft liegt vor ihm, doch es lässt immer den Stift auf das Heft fallen, nimmt ihn wieder auf, lässt ihn wieder fallen. «Überprüf doch, ob du deine Wäscheklammer verschieben solltest.»
Ich finde es ideal, wenn ein Kind aus eigenem Antrieb die Wäscheklammer verschiebt. Wenn ich eine solche Verschiebung beobachte, dann kommentiere ich sie: «Eric, du hast gemerkt, dass du in die schlechte Version gekommen bist, weil du die Aufgaben nicht so schnell lösen kannst, wie du es dir vorgestellt hast. Du bist einfach dagesessen, bis du auf einmal deine Wäscheklammer in die schlechte Version verschoben hast. Es kommt mir so vor, dass du anfängst Verantwortung für dich und dein Tun zu übernehmen. Wenn ich zurückdenke, wie du vor einem halben Jahr mit einer solchen Situation umgegangen bist. Du bist zu mir an das Pult gekommen, hast das Heft hingeschleudert, finster dreingeschaut, und geschimpft, dass du gar nichts verstehst.»
«Sabina, achte darauf, ob du in die schlechte Version gerätst, weil du ein Wort verbessern musst?»
«Ein bisschen. Aber jetzt ist es schon wieder vorbei.»
Es ist immer wieder eindrücklich mitzuerleben, was passiert nach solchen kleinen Interventionen. Es geht eine Welle der Erleichterung durch alle Kinder, für mich sichtbar daran, wie sich alle leicht aufrichten während sie weiterarbeiten. Eric kommt an mein Pult, lächelt, macht lautes Denken und bevor er weiterarbeitet verschiebt er die Wäscheklammer in die Nähe der guten Version.
Meine Kommentare führen dazu, dass immer öfters auch andere Kinder eigenständig die Wäscheklammer umplatzieren, denn meistens gebe ich den Hinweis, auf die Version zu achten.
«Schauen Sie, wo meine Klammer ist!», sagt Leo strahlend zu mir. «Ja, ich sehe sie, die ist ja ganz, ganz an der äussersten Ecke von der guten Version.» «Ich sollte zwei Tafeln haben für die gute Version. Ich könnte sie gut noch ankleben.» Leo darf das so machen.
Es war auch Leo der eines Morgens vor mir stand und sagte: «Die Schule 3×3 macht. Die Schule 3×3 macht.» Er suchte nach dem passenden Wort. Ich wartete gespannt. «Die Schule 3×3 macht mutig.» Das triffts.
Mir gefällt an diesem Modell besonders, dass es ganz unverblümt beides anspricht, gute Versionen und schlechte Versionen. Beide kommen auf den Tisch. Das vermittelt uns allen ein Gefühl der Sicherheit, weil wir uns angenommen fühlen, als Menschen, die sich allen Facetten des Lebens zuwenden möchten. Ich muss nicht alles richtig machen, damit ich anerkannt bin.
Ich spüre immer wieder, dass ich es schaffe, jedes Kind in allen seinen Versionen wertzuschätzen Wertschätzen heisst für mich im wahrsten Sinn des Wortes den Wert von etwas schätzen. Daher ist das Wahrnehmen in welcher Version man ist nur ein erster, doch bedeutsamer Schritt. Anerkennen was ist, ist mir wichtig, aber es heisst nicht, dass ich alles akzeptiere.
Wenn die Kinder immer wieder die Gelegenheit bekommen sich unvoreingenommen in ihren Gedanken und ihrem Tun zu beobachten, so können sie wichtige Hinweise gewinnen: «Aha! So mache ich das. Deshalb ist das so und so mit mir! Ich komme in die schlechte Version, weil ich das und das so mache. Ich setze mich selber in die Tinte.»
Ein erster wichtiger Schritt ist getan, wenn sich ein Kind mit etwas Abstand anschaut. Doch wie kommt es wieder aus der Tinte heraus?
Ohne gründlich nachzudenken, zu planen, sich anzustrengen, die Belastung auszuhalten und den Widerstand zu überwinden, geht das nicht. Mein Job als Lehrerin ist es, genau hinzuschauen, festzuhalten was gelingt und was fehlt und ich spreche mit dem Kind über seinen «Unfall». Meistens erweist sich ein Umweg, ein Stolperstein als sehr nützlich, wenn das Kind spürt, dass diese Störung nicht seine Person dunkel färbt, sondern dass eine andere Haltung sich selber und der Arbeit gegenüber nötig ist.
Damit beginnt der zweite Schritt.
Lernen in der Schule ist anspruchsvoll. Man muss sich konzentrieren, Ausdauer haben, man muss genau zuhören, man muss sich erinnern, man muss aufmerksam sein und man muss sein Bestes geben, auch wenn man eigentlich gar nicht mehr mag.
Das Rüstzeug dazu hat jedes Kind, aber nur wenn man weiss wo man es hat und wie man es nutzt. Viele Studien zeigen immer klarer, dass es nicht der Intelligenzquotient ist, sondern dass es die exekutiven Funktionen sind, die langfristig für schulischen Erfolg sorgen. Man kann sie so definieren: Die exekutiven Funktionen sind geistige Fähigkeiten, die unser Denken und Handeln steuern. Wir benötigen sie, um zu organisieren, zu planen, eine Aufgabe rechtzeitig anzufangen und dran zu bleiben, Impulse zu kontrollieren. Emotionen wie Frustration und Wut zu regulieren sowie kreativ zu denken und flexibel nach Lösungen zu suchen.
Das exekutive System hat seinen Sitz im Frontalhirn. Diese Region entwickelt sich langsam und bis ins junge Erwachsenenalter hinein. Die exekutiven Funktionen amten als Kapitän. Die Kinder brauchen aber zuerst eine Ausbildung für diesen wichtigen Job. Es reicht nicht, wenn die Kinder täglich von den Eltern hören: «Du musst dich halt besser konzentrieren.» Das ist ein weiter Begriff und meistens übersetzen die Kinder den Begriff so: «Ich kann mich nicht konzentrieren, weil der Nachbar immer mit den Bleistiften herumspielt.»
Die Fähigkeit seine Aufmerksamkeit zu steuern, um Unwichtiges auszublenden und sich auf das Wesentlich zu konzentrieren, ist eine äusserst wichtige exekutive Funktion. Sie nimmt die Kinder in die Pflicht und sie können aufhören mit dem Gejammer, dass sie halt gestört würden.