Weg mit den Noten?

Fünf Ideen, die unsere Schule besser machen

Wir haben alle mindestens neun Jahre in Klassenzimmern verbracht – wir wissen, wie Schule funktioniert. Doch nur, weil es schon immer so war, heisst es nicht, dass es nicht besser sein könnte. Keine Noten, keine Klassenzimmer. Fünf Fachpersonen denken die Schule neu.

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Die Lehrperson muss klar führen

 
Ruth Baumgartner (78) ist Lehrerin und Schulleiterin an ihrer Privatschule 3×3 in Männedorf ZH.
Ruth Baumgartner hat fast 60 Jahre Erfahrung als Lehrperson auf Primarschulstufe.

Kinder, die ganz neu in der Schule 3×3 sind, quittieren meine Anweisungen oft mit einem «OK». Ich antworte jeweils: «Ich brauche da keine Bestätigung, es ist mein Job, die Massstäbe zu setzen und das einzufordern, was ich verlange. Ich sorge für dich und du bekommst, was du brauchst.»

Ich schaffe damit einen Raum mit klaren Grenzen, in dem das Kind seine anspruchsvolle Aufgabe erfüllen kann. Die Kinder spüren, dass sie verstanden werden. Sie fühlen sich angebunden an die Schule, an mich und an das Lernen. Sie fühlen sich sicher und trauen sich mehr zu. Das ist wichtig, denn der Erwerb der Kulturtechniken ist mit viel Anstrengung verbunden.

Zum Glück wollen die Kinder Leistung bringen. Gut sein im schulischen Lernen hat für die Kinder und für die Eltern einen hohen Stellenwert. So ergibt es sich ganz natürlich, dass Schule und Elternhaus an einem Strick ziehen.

Mich fasziniert, was passiert, wenn ich die Fäden ganz locker halte und die Grenzen sich verändern. Ein Beispiel: Die Kinder erledigen ihre Hausaufgaben in der Schule und dürfen sich mit einem Partnerkind zusammentun.

Sie wählen ein langes Seil aus und jedes Kind bindet sich ein Ende um den Bauch. Alle setzen sich so verbunden an den eigenen Platz. Wenn ein Kind nicht weiterkommt, darf es am Seil ziehen und das Partnerkind kommt und hilft.

Anschliessend berichten die Kinder in der Gruppe über ihre Erfahrungen und halten sie dann noch schriftlich fest. Hier einige Feedbacks: «Meine Sinne sind aufmerksam. Das Überraschungsgefühl, wenn ich das Ziehen am Seil spüre, das ist spannend. Ich fühle mich sicher. Die Beziehung zu meinem Partner ist gut. Wir sind gute Unterstützer füreinander und ich kann ihm Fehler zeigen in seiner Geschichte.»

Damit die tiefen Erfahrungen mit dem Verbundensein im Schulalltag präsent bleiben, darf sich jedes Kind ein kurzes Seil auf sein Pult legen.

Meine Erfahrungen während der vergangenen fast 60 Jahre in verschiedensten Schulen und Klassenzimmern lassen nur diesen Schluss zu: Die Lehrperson muss die Zügel stets in der Hand halten – ob eng oder locker. Denn klare Führung schafft Sicherheit.

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Weg mit den Noten!

Philippe Wampfler (45) ist Deutschlehrer an der Kantonsschule Uetikon am See und Dozent für Fachdidaktik Deutsch. Er ist Autor mehrer Bücher, u. a. «Eine Schule ohne Noten» (2021).

Je länger ich als Lehrer arbeite, desto sicherer bin ich, dass die Abschaffung von Noten die Schweizer Schulen mit einem Schlag massiv verbessern würde. Bringt jemand diese Idee vor, stellen sich viele Menschen vor, Noten würden ersetzt: durch lachende oder weinende Gesichter, Farbcodes oder Wortbeurteilungen. Das ist ein Missverständnis. Eine Schule ohne Noten ist eine Schule ohne Bewertung. Und eine Schule ohne Bewertung ist eine bessere Schule.

Warum? Bewertungen sind erstens unfair und ungenau. Zweitens erzeugen sie künstlichen Druck und Frustration. Sie belasten die Lernerfahrungen von Kindern und Jugendlichen unnötig. Müssten Schulen keine Bewertungen vornehmen, könnten sie sich komplett auf die Unterstützung junger Menschen fokussieren.

Heute nehmen Lehrpersonen eine seltsame Doppelrolle ein: An einem Tag ermutigen sie Klassen, am nächsten verteilen sie Mathe-Prüfungen mit ungenügenden Noten. Das betrifft auch ihre Zusammenarbeit mit Eltern: Am Elternabend treten sie verständnisvoll und hilfsbereit auf, am Ende des Semesters müssen sie Noten setzen, die Kindern Bildungswege verbauen.

Kinder brauchen in der Schule genauso wenig Beurteilungen, wie sie das Zuhause brauchen. Keine Mutter und kein Vater kämen auf die Idee, ihre Kinder zu beurteilen. Weshalb sollten Schulen das tun?

Der konsequente Verzicht auf Noten bedeutet auch einen Verzicht auf Selektion. Die Aufteilung nach der Primarschule auf drei oder vier Leistungszüge ist verheerend: Sie attestiert einem Teil der Pubertierenden, nicht in der Lage zu sein, eine anspruchsvolle Lehre oder eine Mittelschule zu besuchen – und spricht anderen bereits die Fähigkeiten zu einem Studium zu, die in diesem Alter noch gar nicht ausgebildet sind.

Könnten Schweizer Schülerinnen und Schüler bis zur 9. Klasse ohne Bewertungs- und Selektionsdruck lernen, entstünde eine Schule, die Kinder gern besuchen. Leistungsdruck erzeugt psychische Krankheiten und Mobbing. Hier wäre die Stellschraube, um viele Veränderungen anzustossen.

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Vielfältige Begabungen fördern

Kathrin Müller (48) ist Professorin für Inklusion und chancengerechtes Lernen an der Hochschule für Heilpädagogik in Zürich.

Schule soll für alle da sein – vermutlich würden auch Sie dieser Aussage zustimmen. Doch vielleicht zögern Sie auch und fügen ihrem Ja ein «Aber» hinzu. Die Vision der Teilhabe an Bildung für alle klingt verlockend, aber sie ist nicht einfach zu haben. Dies zeigen auch die aktuellen, sehr emotionalen Diskussionen rund um die integrative Schule.

Fragen über die Art der Bildung, die unsere Kinder und Jugendlichen brauchen und ob alle tatsächlich daran teilhaben können und wollen, bleiben offen.

Die vielfältigen Lebensrealitäten machen es schwierig, allen mit gleicher Wertschätzung zu begegnen, und es entstehen Konflikte und Spannungen im Klassenzimmer, in der Schulpolitik und der öffentlichen Diskussion – das «Aber».

In einem Schulsystem, das allen Kindern und Jugendlichen gerecht wird, zielt schulische Bildung nicht nur auf kognitive Fähigkeiten und Wissenserwerb ab. Kinder und Jugendliche sollten in ihren vielfältigen Begabungen unterstützt und gefördert werden.

Ziel ist, dass alle Kinder lernen, das eigene Leben solidarisch in Einklang mit ihrer (sozialen) Umwelt zu gestalten. Unsere arbeitsteilige, demokratische Gesellschaft lebt von vielfältigen Fähigkeiten und Fertigkeiten. Lassen wir das unsere Kinder und Jugendlichen schon in ihrer Schulzeit erleben und entdecken. Um Teilhabe an Bildung für alle zu erreichen, müssen sich Menschen aktiv dafür einsetzen.

In meiner Vision von Schule sollen alle Stimmen gehört werden, auch die der Kinder und Jugendlichen. Spannungen und Widersprüche können wichtige Anhaltspunkte sein, um zu erkennen, wo es Entwicklungsbedarf für ein menschenwürdiges Miteinander in Schule und Unterricht gibt. Wir sollten sie ernst nehmen und als Lerngelegenheiten auf allen Ebenen des Bildungssystems nutzen. Der Weg ist hier das Ziel.

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Aus dem Klassenzimmer ausbrechen

Rahel Tschopp (52) ist Bildungsexpertin und berät und begleitet mit ihrer Denkreise GmbH Schulen im Wandel.

Angenommen, wir löschen alle unsere interne Festplatte, auf der unsere Vorstellungen von Schule und unsere persönlichen Schulerfahrungen abgelegt sind: Wie sieht die Schule aus, wenn wir sie von Grund auf neu erfinden?

Meine Schule besteht nicht mehr aus Klassenzimmern, sondern aus verschiedenen Lernräumen – in- und outdoor. Die Kinder lernen von klein auf, sich selbstverantwortlich darin zu bewegen. Ein Kind arbeitet am liebsten im ruhigen Raum, ein anderes braucht den Austausch mit den Kolleginnen.

Das Schulhaus ist ausgelegt für maximal 120 Kinder und Jugendliche. Sobald eine Schule grösser ist, steigt die Wahrscheinlichkeit für Vandalismus und Streitigkeiten.

Die Beziehungsarbeit zwischen allen Anwesenden ist enorm wichtig. Die Kinder und Jugendlichen lernen in altersgemischten Gruppen. Alle Schülerinnen und Schüler haben eine erwachsene Lernbegleiterin, wöchentlich haben sie ein gemeinsames Lerngespräch.

Die Sozialkompetenz hat einen hohen Stellenwert: Die Kinder übernehmen bewusst Verantwortung für sich, die Gemeinschaft und ihr Umfeld. Auch Eltern arbeiten aktiv mit: Sie geben Einblick in ihr Handwerk, in ihr Know-how.

Jedes Kind darf von klein auf jede Woche in eigenen Projekten lernen. Die Kinder entdecken und entwickeln dabei das eigene Potenzial, lernen mit Komplexität umzugehen, trainieren die Ausdauer, erleben Selbstwirksamkeit.

Klar ist: Die Kinder dürfen in ihrem eigenen Tempo lernen. Kein Kind wird ausgebremst, damit die anderen nachkommen. Ebenso wird keines überfordert, weil es mehr Zeit braucht. Noten gibt es keine. Nicht, weil die Leistung nicht mehr wichtig ist. Im Gegenteil: Das Kind erstellt ein Portfolio und macht seine Kompetenzen sichtbar.

Der Jugendliche und seine Eltern wissen gegen Ende der obligatorischen Schulzeit genau, welche Kompetenzen er mitbringt. Er kann sich durch diese neue Schulart gut einschätzen, er kennt seine Stärken. Und: Er ist sich gewohnt, die Arbeit zu sehen, wartet nicht darauf, bis man ihm sagt, was er zu tun hat.

Was es dazu braucht? Mut. Mut, nicht an der Kopie der alten Festplatte festzuhalten, sondern die Festplatte neu und zeitgemäss zu bespielen.

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Die Selektion nach der 6. Klasse abschaffen

Jörg Berger (42) ist Geschäftsleitungsmitglied Verband Schulleitende Schweiz VSLCH und Vizepräsident proEdu.

Unsere Volksschule soll einzigartig bleiben und weiterhin zu Recht mit einem guten Ruf glänzen. Täglich setzen sich viele hoch motivierte Lehrkräfte und Schulleitende dafür ein, Heranwachsende in eine glückliche und chancenreiche Zukunft zu begleiten. Zentral dafür ist, ihr Vertrauen in die eigenen, ganz individuellen Fähigkeiten zu fördern und zu stärken.

Leider gelingt das nicht immer. So wie unser Bildungssystem heute ist, schafft es dieses trotz allem Engagement und aller Fachkompetenz der Lehrpersonen nicht, 150’000 Kinder und Jugendliche ausreichend zu fördern: 14’000 unausgeschöpfte Talente jährlich oder 17 % fallen durch die Maschen.

Das ist nicht nur ganz persönlich für die Betroffenen eine traurige Katastrophe, sondern auch für die Schweiz in Zeiten von Fachkräftemangel und unbesetzten Lehrstellen. Zum Vergleich: Basel zählt ca. 19’700 Vollzeitstellen in den sogenannten Hightech-Branchen. Die Verfügbarkeit von Talenten ist der wichtigste Trumpf des Schweizer Wirtschaftsplatzes und verweist Unternehmenssteuer, Rechtssicherheit und politische Stabilität auf die hinteren Ränge.

Was ist zu tun? Politik und Berufsverbände müssen vereint eine der unnötigsten Hürden abbauen und die Selektion Ende der 6. Klasse ans Ende der Volksschule verschieben.

Warum? Zum Zeitpunkt der Selektion, also der Pubertät, sind die Kinder massiven Veränderungsprozessen ausgesetzt. Dieser geistige und körperliche Stress führt oft dazu, dass sie nicht bereit sind für den druckreichen Selektionsprozess.

Dieser basiert denn auch nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auf Traditionen – und verstärkt die Chancenungerechtigkeit. Wenn Kinder und Jugendliche ihre Talente entfalten sollen, braucht es mehr Durchlässigkeit und keine äusserliche Trennung nach Schultypen, eher eine Anreicherung unterschiedlicher Herausforderungen. Das lässt Kindern und Jugendlichen den dringend benötigten Spielraum zur Entfaltung ihres Potenzials mit ihren Talenten, welche die
Schweiz braucht. Davon profitiert langfristig auch die Volkswirtschaft.

 

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Karen Schärer Redaktorin Gesellschaft